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Tafelobst

Tafelobst

 

Ein Ei, ein angebrochener Becher Margarine, ein Rest Marmelade und wenige Scheiben Käse, die an den Rändern bereits gewölbt waren. Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Auf dem benachbarten Küchenschrank verlor sich ein Korb mit zwei Bananen, deren gelbe Farbe einem Schwarzbraun gewichen war. Daneben Rechnungen. Traurig blickte sie in der kleinen Küche umher. Nichts ist mehr so, wie es war, dachte sie. Nur der Minijob in der Drogerie war ihr geblieben. Nein, so konnte es nicht weitergehen.

„Mami, ich bin hungrig“, ertönte eine helle Stimme und durchbrach die Tristesse des Augenblicks.

„Warte, Kleines, du musst noch etwas Geduld haben. Ich werde wohl doch zur Tafel gehen müssen“, seufzte die junge Frau leise.

„Musst du etwas anschreiben?“, fragte die Kleine neugierig.

„Nein“, lächelte die Mutter, „die Tafel ist ein Ort, wo man kostenlos oder für wenig Geld etwas zu essen bekommt, aber erzähle niemandem davon. Du musst heute Morgen bei unserer Nachbarin bleiben.“

Eilig streifte die junge Mutter ihren abgetragenen Mantel über. Die alte Dame öffnete erst beim zweiten Klingeln die Wohnungstür.

„Guten Morgen“, versuchte die junge Frau ihr Glück, „würden Sie meine Tochter...?“

„Schon wieder?“, unterbrach die Nachbarin.

„Es tut mir leid, ich habe vergessen ein paar Teile einzukaufen“, log die junge Mutter.

Sie war schon auf der halben Treppe angelangt, als die Kleine ihr noch „Bring mir etwas Schönes mit, Mami“ hinterherrief.

 

Der Oktober war schon weit vorangeschritten. An den wenigen Bäumen hingen nur vereinzelt noch Blätter. Es regnete. Sie ging die Straße entlang, vorbei am Fischgroßhandel und der Spedition. Der penetrante Geruch der Ölmühlen durchzog das Viertel. Hinter einer Biegung passierte sie die kleine Gemeinde St. Thaddäus. Am Horizont stiegen weiße Rauchwolken aus den Schloten der Kartonagenfabrik auf. Sie musste gegen den Wind ankämpfen. Als sie den spärlich beleuchteten Fußgängertunnel an der Schnellstraße durchschritten hatte, konnte sie schon von weitem das Gebäude der Tafel erkennen. Ihre Schritte wurden kleiner und langsamer, je näher sie dem Eingang kam. Sie zögerte noch, betrachtete die antiquarischen Bücher zu kleinen Preisen in einfachen, hellen Holzregalen, die wie Wachsoldaten die Glastür einrahmten.

Vorsichtig lugte sie durch die Tür und betrat einen großen, einladenden Raum. Auf der linken Seite stapelten sich grüne Klappkisten, gefüllt mit Obst, Gemüse und Milchprodukten. Ihr Blick fiel auf einen Nebenraum, in dem zwei ältere Frauen mit Kopftüchern blaue Kleidersäcke leerten, den Inhalt begutachteten und sortierten. Geradeaus eröffnete eine Durchreiche den Blick in die Küche, in der ein stämmiger, junger Mann eine Mahlzeit zubereitete, vor ihm Glasschälchen mit gemischtem Salat und Süßspeise, liebevoll aufgereiht wie an einer Perlenschnur. An einem übergroßen Tisch löffelte eine Gruppe älterer Menschen schweigend eine Suppe.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Eine tiefe, warmherzige Stimme trat auf sie zu. Sie gehörte zu einem großen, weißhaarigen Herrn, der durch seine Präsenz den Raum füllte.

„Ich brauche für mein Kind etwas zu essen“, flüsterte die junge Frau. „Ein Job mit geringfügiger Beschäftigung reicht einfach nicht.“

„Verstehe“, nickte der Herr vielsagend und rückte seine Brille zurecht. „Zur Zeit haben wir nicht viel anzubieten, nur Äpfel, Apfelsinen, Salat, Brokkoli und Joghurt. Von den Supermärkten kommt nur noch wenig.“

„Warum?“, fragte die junge Frau neugierig.

„Nun, einige haben die Bestellungen optimiert. Andere werfen die Lebensmittel lieber in den Müll. Es ist einfach traurig.“

Die Frau schwieg und betrachtete die Klappkisten.

„Nehmen Sie sich, was Sie brauchen“, ermunterte der ältere Herr seine neue Kundin.

Im nächsten Moment öffnete sich mit Schwung die Eingangstür und ein Mitarbeiter fuhr auf einer Transportkarre neue Lebensmittel hinein: Kartoffeln, Milch und Backwaren.

„Wieder nur so wenig“, bemerkte der Leiter, „und die Zahl der Bedürftigen steigt täglich. Sogar ehemalige Banker sind vereinzelt dabei. Auch Flüchtlinge haben die Tafel für sich entdeckt.“

Die junge Frau füllte Äpfel, Kartoffeln, Brokkoli und ein Brot in eine Einkaufstüte. Das würde für wenige Tage reichen.

„Wir bereiten übrigens auch leckere Mittagsgerichte gegen eine geringe Spende zu, anschließend gibt es Kaffee und Kuchen“, warb der ältere Herr weiter.

Die junge Frau bedankte sich vielmals und war gerade im Begriff nach Hause zu gehen.

Sein Mobiltelefon beendete die Ruhe im Raum. Die Klingelmelodie kam ihr bekannt vor: „Another Day in Paradise“.

„Was für ein Segen“, frohlockte der ältere Herr in sein Handy. Ein Strahlen lag auf seinem zerfurchten Gesicht. „Ich kann es kaum glauben. Nach so langer Zeit.“

Schnell beendete er das Telefonat und wandte sich aufgeregt der jungen Mutter zu.

„Der größte Discounter der Stadt, der sich jahrelang quer gestellt hat, überlässt uns ab sofort die täglich abgelaufenen Lebensmittel. Wir brauchen sie nur abzuholen.“

„Wie schön“, freute sich die junge Frau mit ihm.

„Wir brauchen sofort zwei zusätzliche Mitarbeiter. Einer allein schafft es nicht. Haben Sie vielleicht Zeit und Lust? Die Tafel zahlt gut.“

„Ich kann …“, stammelte die Frau, ohne ihren Satz zu beenden. Sie weinte.

 

©Jürgen Jost, Weihnachten 2015, www.theisland-story.de

 

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